Aus einem Brief an Liesel Meyer Juli 1966
 

Ruhe – Th. Mann liest aus dem Krull vor. Inzwischen habe ich einen Faltenwurf in Tusche angefangen, diesen natürlich schon wieder gegen die Aufgabenstellung verändert. Ich sagte mir, dass man ja einen neuen fabrizieren kann. (…) Jetzt pingele ich an meinem Faltenwurf weiter, in der Hoffnung, dass irgendjemand kommt und Spinat kocht. (…) Nach einem Verdauungsschlaf weiß ich nicht, ob ich mit der Zeichnung aufhören soll oder nicht. Der fragmentarische skizzenhafte Eindruck macht sich immer gut. Doch bin ich da schon einen Schritt zu weit gegangen. Getönt ist auch schon. Soll ich die offenen Umrisslinien stehen lassen? Da ist zu viel Vegetarisches drin, Stoff nur an einzelnen Stellen. Überhaupt zu viel Weiß. Ich werde noch weitermachen, vielleicht verderben. Doch erinnere ich mich der letzten samstäglichen Worte des werten Kollers*, der sagte: stehen lassen kann man immer noch, auch wenn es verdorben ist, aber versuchen, eine Sache der Vollendung entgegen zu treiben, dazu soll man keine Gefahr scheuen. Ich werde weiter machen. (…) Jacques: „Hör auf, lass die Federzeichnung so!“ Somit habe ich Schluss gemacht. Wenn ich noch in fünf Minuten, Du wirst es ja dann hören, erfahren, wenn ich dann noch Lust habe, werde ich einen neuen Faltenwurf beginnen, und zwar als Abstraktion. Ein ganzes Blatt mit spitzen und runden Falten oder faltenähnlichen Geschwülsten. Sie dürfen keine stoffliche oder gardinenmäßige Funktion mehr haben, sondern rein dekorativ auf dem Blatt stehen. Zigarette rauchen. (…)23 Uhr 30. Ein Mann ist soeben erschossen worden. – Mir gruselt, so dass die Zigarette zittert. Ich werde mich schnell an meine Falten stürzen, mich bedecken. Verstecken. 0 Uhr 30. Ich bin recht zufrieden mit der Abstraktion, oder abstrakten Geschichte. Im Radio ertönen die ersten pfingstlichen Klänge. Irgendeine Haydnsche Sache. Mit dem Schlusschor mache ich auch Ende. Lösche das Licht, geh mit ihm zu Bett und versuche, meinen linken Arm um Dich zu legen.

(…) Inzwischen ist es 22 Uhr 30 geworden. Materialzeichnen lautet die nächste Arbeit. Ein halbes Blatt habe ich schon beschraffiert. Ich bin verdammt müde, heute. Insekten versuchen, durch das Gazefenster ins Licht zu fliegen. Sie schaffen es nicht, denken aber auch nicht daran, dass kurz um die Ecke ein schräges Fenster offen steht, das kein Draht vor Lichtanfliegern schützt. Ich werde jetzt noch die Zuckerbüchse fertig zeichnen, dann schnell den Buchrücken des alten Kellerbandes dazu und was noch fehlen mag. Dann werde ich noch Zigaretten holen, damit es nicht wieder ein nächtliches, bzw. frühmorgendliches Zigarettenholen wird. Ich wollt, ich wär bald wieder so weit. Kurz vor Eins, ich mache Schluss. Wieder ein Tag vorüber. Für mich ein Arbeitstag mit feiertäglichem Mittagessen, für Dich hoffentlich mit Bikini.

Aus einem Brief an Liesel Meyer August 1966 

Lieber Schatz! Endlich wieder einmal ein schöner gemütlicher Arbeitstag. In der Bude ist es angenehm warm, die Kaffeetasse dampft, Zigarette ebenfalls, die Katzen liegen so lang wie sie sind nebeneinander auf dem Bett und alle fühlen sich wohl. Vorhin habe ich das Barockbild beendet. Es ist, glaube ich, mein bestes bis jetzt. Am Rokoko steckt noch viel Arbeit. Bis jetzt ist es nur Fleisch – keine Knochen. Ein grelles Selbstbildnis habe ich begonnen. Es ist gar nicht so einfach, die Farbigkeit und die Formen aus den vorhergehenden Abstrakta auch im Gegenständlichen beizubehalten. Entweder rutscht man in den Expressionismus oder in die Welt der geometrischen Konstruktion.

Aus einem Brief an Liesel Meyer November 1966


Doch noch habe ich meine Arbeit. Erst heute habe ich in einem Gang, Alleingang, eine Auflage von 13 Stück gedruckt. Meine Mappen füllen sich in Eile. Zwei Platten noch und ich werde mein Weihnachtsgeschäft eröffnen. Die Krönung wird eine große Kaltnadel werden, mit dem Thema: der Vertrauensarzt, in Form des jüngsten Gerichtes von Schongauer. Mit Victor* war ich heute auf Achse und habe für die Kupferdruckpresse ein Rohr besorgt. Außerdem konnte ich nicht widerstehen, einen letzten herrlichen Goldrahmen für 5.- DM zu kaufen, 20 cm breit, 100 x 80 cm groß. Prächtig. Aus Bonn habe ich eine Adresse von einem Verlag bekommen, der „avantgardistische“ Graphik braucht. Mal sehen, ob es klappt. Meine Mappen sind bald fertig. 5 Stück sind ganz fertig. Dummerweise habe ich noch ein neues Blatt (Frauenarzt) angefangen. Wird gut. Meine Bildchenmalerei geht dank meiner Immigration mächtig voran. Meine Presse funktionierte – wunderbar, bis mir der gebrochene Gusseisenbügel auf die Finger fiel. Doch ist der Schaden leicht zu beheben. Leider erst nächste Woche, wenn ich wieder Autofahren kann. Den ersten Druck haben wir als „Laubenpressen-Erst-Handabzug“ signiert und schwer aufgehoben.


Aus einem Brief an Liesel Meyer im März 1966

Gestern bekam ich auch einen Schriebs von der Akademie, dass ich zur Prüfung zugelassen bin. Beiliegend war ein ganzer Schreibwarengroßhandels-Katalog von Utensilien beigefügt. Was man da so alles zur Prüfung mitzubringen hat. Ich werde mich nächste Woche in der Akademie erkundigen, was die Prüfungskommission wohl damit vorhat. So zum Beispiel soll ich auch Schere und Uhu mitbringen. Nun frage ich Dich, soll ich da basteln? Sicherheitshalber werde ich einen Hammer, Steinbohrer und Steckdübel mitnehmen, falls meine Zeichnerei nicht ausreichen sollte. Vielleicht brauchen die da einen Hausmeister.


Bericht von einer Ausstellung der Gruppe „Märkische Maler“ in Berlin-Spandau


Geliebter und markig-märkisch geküßter Schatz! Frisch aus Spandau und vom Bequatschen bei Dietmanns zurück, schnell meinen Erlebnisbericht. Um fünf Uhr bin ich mit der großen Pianistin Frasnelli losgefahren, während der nicht minder große Maler und Vater auf die Tochter aufpassen wollte. Alfred* war aber schon den ganzen Tag draußen und bildete allein die Hänge- bzw. Tischrückkommission. Die anderen alten Herrschaften erteilten gute Rat-schläge. Wir beiden jedenfalls waren kurz vor achtzehn Uhr da und fanden Freund Skrotzki nebst Gattin und den alten Maler Kley an. Der Saal ist dufte, und nicht nur für die Märkler. Meine 10 Silberrahmen hängen direkt neben dem Eingang, nicht zu übersehen, an einer Platte. Alfreds arme Bilder haben zur Rechten hin den doppelt Gekreuzigten (einmal gekreuzigt und zum zweitenmal durch das Spachteln des werten Malers B.), daneben hängt jedenfalls Christus. Skrotzkis Bilder sind grausam, die Zeichnung des Gastes und Festredners Juling (nicht der Festredner vom letzten Jahr, der so gut sein soll) sind schrecklich, und die Bilder vom geplagten Müller-Eulo hängen schief, weil er den Schwerpunkt für die Aufhänger nicht richtig fand.

Tierhalter Skrotzki eröffnete die Feier mit der feierlichen Verlesung des Programms. Anwesend waren insgesamt 30 Leute, davon drei fremde. Künstlerin Frasnelli spielte auf dem Flügel. Er war geöffnet und schrecklich klapprig, saitenweise verstimmt. Mit großem Einfühlungsvermögen und tiefer Hingabe bewältigte die Pianistin das Instrument. Das vorwiegend greisige Publikum lauschte in bewährten Posen. Dann kam das schöne und bewegende Stück, die „Träumerei“. Die Künstlerin legte so große Fermaten dazwischen, dass ich leicht unruhig wurde (weil sie vergessen hatte, die Noten mitzunehmen), doch war gerade dies richtig, denn diese Fermaten waren das größte Maß an Verinnerlichung, was das Publikum an diesem Abend zu genießen hatte. Ich hatte schließlich Angst, dass die Fermate aufhörte, denn dann wären etliche Herzen gebrochen worden, aber so setzte der Pulsschlag der Musik sehr zaghaft wieder ein, und Tante und Oma, Großvater und Onkel, Vetter und Base – alle konnten ihrem geregelten Atmen wieder nachgehen. Dann war diese Träumerei zu Ende. Still verklangen die letzten Töne, geradezu verschwommen im verstimmten Bass des schwarzen Flügels – da platzte der Festredner und Gastmaler Juling mit großem Applaus hinein. Dietmann-Frasnelli rettete, indem sie etwas hart das nächste Stück des Zyklus folgen ließ. Juling drehte sich zu mir um und flüsterte: „Ich hielt es nicht mehr aus, das ist mein Lieblingsstück“, sank zurück und bekam die rötesten Ohren, die ich jemals im Gegenlicht gesehen habe. Vor dem Mendelsohn eine kleine Atempause, dann ging es weiter. Das war dem greisen Altmaler B. (siehe oben unter Christus) etwas zuviel. Er stand auf und wandelte in die hinterste Ecke, ich glaube in die angebaute Küche (vom Gemeindehaus), um sich zu entspannen. Nach dem Musikvortrag der große Beifall, nun von allen, folgte die Rede das Gastes und nun seienden Mitgliedes der märkischen Maler: Juling. Ohne Konzept begann er seinen Vortrag mit der Begrüßung des Pfarrers. Er sagte, dass Kunst und Kirche zwei gar nicht so fremde Welten seien, nein, beiden innewohne das heilige Amt der Verehrung. Auch danke er der Pianistin, die bestimmt nicht ohne Grund gerade Schubert und Mendelsohn gewählt habe, denn schließlich seien beide Zeitgenossen von Mörike, Spitzweg, Runge und den anderen Malern. Freiheit, ja, Freiheit sei es, was diese Leute alle vertreten, und gerade diese, in unserer geteilten Stadt und so weiter, sei ja auch wichtig. Dann wolle er doch als...... (Titel ist mir entfallen) auch die anderen Maler vorstellen, dem Alphabet nach. Da haben wir den humoristischen Maler B., dort den mit der weißen Mähne (der war gerade in der Küche), ist ja allen bekannt, dann den lebendigen und tatkräftigen Herrn Dietmann, als Gast einen jungen aufstrebenden Maler, der auch recht lustig sein kann, wie ich ihn vorhin kennenlernte (er sprach zu mir den Satz: „Sie haben also die entzückenden Radierungen gemacht?“), der aber auch recht ernst seinem Studium an der Hochschule nachgeht, und dann ist dort noch der Vorsitzende Skrotzki, der ja auch immer alle – ha, ha, ha – Päckchen zu tragen hat (Skrotzki hatte die Preisschilder geschrieben). Dann kam er zum Anliegen seiner Rede: „Stellen Sie sich mal vor, Herr Meier hat eine hübsche kleine Neubauwohnung und möchte sich als i-Tüpfelchen ein Bild kaufen. Ja, was macht er da? Er kann in ein Kaufhaus gehen und eine Reproduktion kaufen. Bin ich doch mal dort hingegangen usw. ...“.

Es folgte eine Anekdote des Marktforschers Juling. Dann kann Herr Meier auch ein Bild aus einer Malfabrik bekommen.... (es folgte die genaue Buchführung der Malfabrik deko-kunst) ... und er kann zum Künstler und auf den Bildermarkt gehen. Hat doch mein Freund Zille mal eine Zeichnung gemacht, da ist eine Nackte – ich bitte die anwesenden Damen um Verzeihung – steht da ein Akt mit einem recht dicken Hinterteil vor dem Ofen, nein, sie verdeckt mit ihrer Breitseite die Ofentür – oder so, und dahinter steht der Maler und versucht, den Ofen zu heizen. Darunter hat mein Freund Zille geschrieben: Unser Ofen muss auch brennen. Und damit lassen sie mich schließen – da fällt mir gerade noch ein, wie ein Metzger zu Menzel gekommen war und ein Bild mit ziehenden Wildgänsen haben wollte. Nach einem Jahr hatte Menzel noch nichts von sich hören lassen. Da ging der Fleischer wieder hin und fragte beim Meister nach, der bestellte ihn auf den nächsten Tag. Der Handwerker kam und fand den Künstler beim letzten Pinselstrich. Der verlangte Preis erschien ihm zu hoch, und er murrte. Da ging Menzel stumm in eine Ecke und holte einen ganzen Stapel Zeichnungen hervor, die zeigten Wildgänse von hinten und vorne, von oben und unten, von links und rechts, im Detail und im Ganzen, im Flug und im Stehen. Da sagte der Fleischer¬innungsmeister nichts mehr, zahlte seinen Obolus und ging. Nun möchte ich schließen, und vergessen Sie den Ofen nicht.“

Die drei Fremden vergaßen den Ofen. Nichts wurde verkauft. In meinen Mappen wurde zwar herumgewühlt, aber die Groschen blieben stecken. Dann nahm mich Maler Skrotzki ins Gebet und instruierte mich, wie ich mich bei meinem Wärterdienst an den beiden kommenden Sonntagen zu verhalten habe: „Hier stehen die Preise, diese Listen sind für die Presseleute, hier muss der Käufer ausfüllen, hier der Maler (der Glückliche) unterschreiben“ usw. usw. Christina unterhielt sich mit einer alten Dame, da packte mich eine widerliche Gestalt und zog mich ins Gespräch (es war der Redner aus dem vorigen Jahr, der eigentlich hätte sprechen sollen, dieses Jahr aber wegen Sparmaßnahmen der Märker nur zuhören durfte, denn dieser Herr Zelle, Bote vom Kunstamt des Bezirkes Spandau, hatte 10 DM bekommen. Nun ja, der Fiesling, immer lächelnd, schmalzig redend und sich dauernd vorbeugend, also richtig kriecherisch widerlich, dieser Heini besabberte mich. Dann rettete mich Christina, und sie war an der Reihe.

Ich bin dann noch mal mit Herrn Köhler*, dem Argwöhnischen, den ich letztlich kennengelernt hatte, durch die Bilderreihen gegangen und habe festgestellt, dass das gar nicht so ein übler Kerl ist. Er quatscht nur furchtbar viel Zeug, versteht aber etwas von dem Gewerbe. Auch er hielt ein Bild für das beste, das ich schon vorher, bei meinem ersten Rundgang, gefunden hatte. Ein herrliches, wahrhaft naives Bild des 85jährigen Kley. Danach löste sich die Verwandtschaft auf, und alle Familien gingen. Die drei Fremden waren schon eher gegangen. Warum keine anderen Fremden da waren? Es waren 100 Einladungen gedruckt worden. 50 davon haben Alfred und ich weggeschickt. 40 lagen noch da, und drei hat Maler B. wieder zurückgebracht. Es wurden also sieben Einladungen von den Märkischen Malern weggeschickt. Es lebe die Reklame! Die hochwürdige Ausstellung läuft nun 14 Tage. 5 % des Umsatzes muss jeder Maler an die Kasse entrichten. Verkaufschance ist gleich Null. Buch wird jedenfalls sehr gründlich geführt, denn jeder der Anwesenden musste sich in das Gästebuch eintragen, alle, auch die Maler selbst. Auf dass das Buch voll werde und die Märkischen Maler noch lange leben, damit sie noch viele, viele Ausstellungen zum Wohle der Öffentlichkeit machen können.

Ich war heute Morgen mit Lutz um 8 Uhr in der HfBK. Unsere Räume sind noch diese Woche wegen der Aufnahmeprüfung besetzt. Während wir noch in der Halle standen, kamen sie alle: Bettina, Margret, Edda usw. – ich habe also diese Woche noch Zeit, etwas zu radieren. Die drei neuen Kirchen sind: Gatow, Kladow und die Schilfdachkapelle in Glienicke. Diese Woche kommt Lichterfelde und evtl. Britz dran, wenn genug Blätter gefallen sind. Alfred will morgen sein erstes ganzes Pferd für 600 Mark malen. Wir haben zusammen einen ganz günstigen Platz in den Ställen gefunden, wo er malen kann. Im Ganzen hat er jetzt 17 Pferdeaufträge in dem neuen Stall, vier davon sind schon fertig. So Schatz, ich gehe jetzt ins Bett. Morgen Abend rufe ich Dich an. Ich umarme und küsse Dich. Dein Schatz. 

Aus einem Brief an Liesel Meyer im November 1967

Immer, wenn Akt ist, bin ich hinterher fertig. Weil man da die ganze Zeit steht. Ich zeichne jetzt ganz große Akte. Hölzmann gibt gute Korrektur, wenn er auch für mein Gefühl zu viel Wert auf „Aussage“ legt. Immerhin will er keine „schönen Blätter“ haben –und das ist gut so.

Aus einem Brief an Liesel Meyer vom 13. Mai 1969

Du fragst nach der Presse. Sie ist noch tadellos in Ordnung, und zum erstenmal habe ich von der großen Alptraumplatte einen guten Abzug gemacht, er ist fast genauso gut wie die Abzüge auf der Schulpresse aus Köln. Dass es früher nicht ging, lag daran, dass ich die Platte mit alten Druckfarben verschmiert aufgehoben hatte. Nachdem ich nämlich die Platte mühevoll wieder sauber gemacht hatte (etwa 3 Stunden habe ich geputzt), konnte die Farbe in die zugeklebt4en Rillen wieder eindringen, und siehe da, sie druckte wundervoll ab. Daraufhin habe ich alle Platten gereinigt und in Papier gut eingepackt. Ich erinnere mich dunkel, dass dies schon mal jemand bei meinen Platten beanstandet hatte. Gestern war nun Baders großer Tag. Sein inszenierter „Atelierbesuch“ hat ihm allerhand eingebracht. Er hat immerhin vier Aquarelle verkauft und das Interesse für seine Autobahnbilder geweckt. Die Leute waren prima. So richtige teils reiche, teils schnell reich gewordene Wohlstandsbürger, die die romantische Atelieratmosphäre genossen – obwohl wir einen Tag aufgeräumt hatten – und zum Schluss sagten: „Ja, ja, wenn man so an der Quelle sitzt, da sieht doch alles ganz anders aus“. Gestern habe ich mich furchtbar über mich geärgert. Drei Tage habe ich ein Photo von einer Menschenmenge von Format 30x40 auf zwei Zinkplatten übertragen, habe fünf Stufen Aquatinta geätzt und habe nach dem ersten Abzug gesehen, dass die erste Stufe zu lang, die fünfte zu kurz geätzt war und dass das Pulver ganz unregelmäßig aufgeschmolzen war. Also drei Tage umsonst, nur weil ich glaubte, mit meinen provisorischen Mitteln auszukommen. Deshalb habe ich mich entschlossen: 1. einen Aquatinta-Kasten zu bauen 2. mir eine Laboruhr zu kaufen 3. mir einen Säuremesser (Boyle) anzulegen 4. einen Musterstreifen in Zink und Kupfer zu ätzen. Dann brauche ich mir nur einen passenden Grauton von dem Muster rauszusuchen und genau zu reproduzieren.

Aus einem Brief an Liesel Meyer vom 18. Mai 1969


23.00 Uhr: Die ersten Abzüge sind besser geworden als ich dachte. Nur ist was ganz anderes dabei entstanden. Wieder mal, wie es oft bei mir ist, dass ich mit festen Vorstellungen beginne, dann aus dem Arbeitsprozeß ausbreche, die Spur verfolge, die mir neu und damit interessanter erscheint.